Gedanken zu einem aktuellen Thema von Susanna Maeder
Immer wieder höre ich von Ritualfachleuten diese Worte: «ich will ja nicht esoterisch wirken!» oder «ich möchte nicht, dass etwas esoterisch rüberkommt!» Wenn dann gar die (eigene) Arbeit mit Ritualen von Aussenstehenden als «esoterisch» betitelt wird, ist dies für viele eine arge Beleidigung. Dieses immer wiederkehrende Thema in allen Bereichen meiner Arbeit, möchte ich hiermit mal etwas genauer unter die Lupe nehmen. Sobald es nämlich um Spiritualität geht, muss man damit rechnen, als esoterisch gebrandmarkt zu werden. Wesentlich dabei ist zu erkennen, dass die Beleidigung: «esoterisch», wenig mit ihrem Wortursprung zu tun hat.
Auch ich und meine Arbeit werden von den unterschiedlichsten Menschen immer wieder in der ganzen Spannbreite von «esoterisch» bis zu «wohltuend un-esoterisch» bezeichnet. Darüber kann ich schmunzeln und es bringt die Subjektivität des Themas zum Ausdruck, worauf ich noch genauer eingehen werde.
Ich möchte aufzeigen, was genau Esoterik von Wort-Ursprung und Geschichte her bedeutet und was dieses Thema mit Authentizität und Schattenarbeit zu tun hat.
Was bedeutet Esoterik im Ursprung?
Der Begriff Esoterik stammt von dem altgriechischen Wort esōterikós und bedeutet: innerlich, dem inneren Bereich zugehörig, von innen her verstehbar. In der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs ist es eine philosophische Lehre, die nur für einen begrenzten „inneren“ Personenkreis oder Eingeweihte zugänglich ist. Dies im Gegensatz zum Begriff «Exoterik», welches allgemein zugängliches Wissen (von aussen her) bedeutet. Andere traditionelle Wortbedeutungen beziehen sich auf einen inneren, spirituellen Erkenntnisweg, etwa synonym mit Mystik, oder auf ein „höheres“, „absolutes“ Wissen.
Geschichte der Esoterik
Die erstmalige Verwendung der Begriffe Esoterik geht bis in die Antike, in die Schulen der griechischen Philosophie zurück. Schon Platon war der Überzeugung, ein Teil seiner Lehren sei nicht zur Veröffentlichung geeignet. Es ist die Rede von „Esoterik“ oder „esoterischer Philosophie“, womit die ungeschriebene Lehre gemeint ist. Es wurde auch von exoterischen und esoterischen Schülern des Pythagoras gesprochen, wobei letztere einen inneren Kreis bildeten und bestimmte Lehren exklusiv empfingen. Immer mehr wurde so der Begriff mit «Geheim-Lehre» verbunden.
Später wurde auch die Lehre von Aristoteles (ein Schüler von Platon) in einer Satire als „esoterisch“ und „exoterisch“ benannt. Dies hinweisend auf zwei Aspekte seiner Lehre: von innen oder von aussen betrachtet.
Im Anschluss gibt es eine spannende Geschichte mit zahlreichen Verbindungen zum Begriff der Esoterik, die sich durch das Mittelalter, die frühe Neuzeit, die Aufklärung und die Romantik bis in die Moderne zieht. Einige bedeutende Namen und Entwicklungen möchte ich hier hervorheben.
In der Zeit der Aufklärung: Rationalität und Esoterik müssen nicht notwendigerweise im Gegensatz zueinanderstehen. Dies zeigten sogar die Freimaurer, die sich von Religionen eher distanzieren. Bei ihnen bestanden ein aktives Eintreten für die rationale Aufklärung und ein verbreitetes Interesse für Esoterik nebeneinander. Dabei wurde «Aufklärung» vielfach mit einem Streben nach «höherem» Wissen gleichgesetzt dies in Verbindung mit dem esoterischen Motiv der Transformation des Individuums.
Das Jahr 1875 wurde oft als Geburtsjahr der modernen westlichen Esoterik angesehen, markiert durch die Gründung der Theosophischen Gesellschaft in New York. Initiator und Präsident dieser Gesellschaft war Henry Steel Olcott (1832–1907). Er war ein renommierter Anwalt, der sich schon lange für esoterische Themen interessiert hatte und den Freimaurern nahestand. Zur zentralen Person wurde jedoch schnell Olcotts Lebensgefährtin Helena Petrovna Blavatsky (1831–1891).Die durch die Theosophische Gesellschaft geprägte esoterische Praxis hatte in Europa einen erheblichen Einfluss Anfang des 19. Jahrhunderts auf das Verständnis von Spiritualität, Religion und Wissenschaft.
Bedeutend in der Weiterentwicklung der Esoterik war auch Rudolf Steiner. Er war Schüler von Helena Blavatsky und übernahm, zumindest in den ersten Jahren, viele Grundlagen von ihr. Steiner wurde stark von den naturwissenschaftlichen Arbeiten Goethes sowie von deutschen Philosophen wie Max Stirner und Friedrich Nietzsche beeinflusst. Auf dieser Grundlage entwickelte er seine eigene Lehre, die Anthroposophie. Diese ist in die christlich-abendländische Tradition und die Mystik eingebettet
Sowohl die Astrologie, das Tarot, die transpersonale Psychologie als auch die Lehren von C.G. Jung wurden mit dem Begriff Esoterik verbunden. Da dies alles Lehren sind, welche dem inneren Bereich, dem inneren Weg und der Persönlichkeitsentwicklung zugeordnet sind.
Wie wird der Begriff Esoterik heute angewendet?
Heute wird dieser Begriff eher abschätzig benutzt, als etwas, was nicht mit der Realität verknüpfbar und abgehoben ist. Die Grenzen dabei sind so vielfältig wie die Menschen selbst. Wer in einem rein rationalen, linearen und mechanischen Weltbild lebt, betrachtet vieles, was sich nicht klar einordnen oder messen lässt, schnell als «esoterisch». Im weiten Feld der Spiritualität haben Menschen sehr unterschiedliche Vorstellungen von Grenzen. Die einen sind davon überzeugt, dass es Engel, Geistwesen, Naturgeister gibt und alles beseelt ist. Andere praktizieren Meditation und legen Tarotkarten, aber wenn es um Channeling und Jenseits-Kontakte geht, wird es ihnen dann doch zu bunt. Sprich: die Grenzen sind dort, wo sie subjektiv gezogen werden in Bezug auf alles, was nicht-fassbar, nicht-erklärbar und nicht-messbar ist.
Perspektivenwechsel: «Bin ich authentisch?»
Wer sich angstvoll fragt: «Wirkt das nicht zu esoterisch?» hat bereits verloren. Denn es sagt aus, dass man sich irgendwie anpassen oder an etwas orientieren will, wofür es keinen objektiven Massstab gibt. Wir verlieren umgehend an klaren Konturen, was mich oder meine Arbeit ausmacht. Die richtige Frage ist also: «Bin ich authentisch?» Diese Frage soll das «nicht-esoterisch-sein-wollen» ersetzen. Denn die Frage, «Bin ich authentisch?» führt mich zu einem klaren Ausdruck meiner Person, welche ich der Welt zeige. So können wir völlig gelassen erkennen, dass wir mal als esoterisch bezeichnet werden und ein anderes Mal als «un-esoterisch». So betitelt zu werden, sagt eigentlich mehr über die Grenzen der Personen aus, welche diese Bewertung vornehmen, als über meine Art oder Arbeit.
Das Thema «Bin ich esoterisch?» geht für mich noch darüber hinaus. Denn, wenn wir nun die zeitgenössische Bedeutung von Esoterik, als «etwas Abgehobenes» nehmen, gibt es für mich definitiv auch eine Differenzierung. Denn die Frage: «Bin ich abgehoben?» wirft nochmals neue Aspekte auf, welche ich hier beleuchten möchte.
Entwicklung nach oben und nach unten: Dreck und Sumpf verwurzelt und gibt Bodenhaftung
Der innere Pfad der Erkenntnis, wofür die Esoterik im Ursprung steht, ist endlos. Das Ergründen der Frage: «Wer bin ich hinter meiner äusseren Form» ist grenzenlos. Die Erforschung unseres Bewusstseins ist ein nicht endender Weg. Das Erkennen, dass überall wo Licht (Bewusstsein) auch Schatten (Unbewusstes) ist, ist ebenfalls ohne Ende. Wenn wir davon ausgehen, dass wir im innersten Kern mit allem verbunden sind (spirituelle Sichtweise), sind wir auch vom grössten Arschloch dieser Erde ungetrennt. Meine Zen- und Meditations-Lehrerin hatte uns mal dazu aufgefordert, mit folgendem Satz zu meditieren: «Ich bin auch Donald Trump». Dasselbe könnte man auch mit Hitler, Putin, etc. praktizieren, oder wie all die üblen Diktatoren heissen. Natürlich kann man das auch mit Namen von Personen tun, die ich als «Kotzbrocken» bezeichne. Dies ist wirklich radikal.
Ich möchte damit darauf hinweisen, dass sobald man sich als «etwas Besseres» wahrnimmt, man in einer abgespalteten Ego-Struktur verhaftet ist. Besonders übel und tricky wird es, wenn sich ein so genanntes «spirituelles Ego» entwickelt. Sprich: Menschen, die einen spirituellen Weg gehen und sich zu einem Wesen voller Licht und Liebe entwickeln möchten, streben danach, immer offener und durchlässiger zu werden und sich über die alltäglichen Dinge zu erheben. Der Weg geht bildlich gesprochen nur «nach oben».
Wer nicht aufhört, auch Schattenarbeit zu praktizieren, wird zu einer wunderbaren Zielscheibe für dunkle Schatten. Zu einer Projektionsfläche, sowohl im positiven, wie auch im negativen Sinne. Wer sich zu einem so genannten «Gut-Menschen» entwickeln will, ist gefangen in einem Konzept und Selbstbild, welches schlussendlich nicht befreit, sondern beschränkt.
Wer sich in höhere Sphären entwickeln und aufsteigen will, muss den Weg genauso tief nach unten, in den eigenen Dreck und Sumpf gehen. Bedingungslos und radikal. Dies gibt Bodenhaftung und verwurzelt uns. Dies schenkt wahres Selbst-Bewusstsein und Standhaftigkeit. Es ist ein Weg der ganzheitlichen Annahme unseres Mensch-Seins in allen Facetten: von ekstatisch-himmlisch-erhebend bis zu bescheuert-beschränkt-abgründig.
Wenn ich auch den esoterischen Aspekt lebe, ist gleichzeitig auch das Bewusstsein und die Erkenntnis vorhanden, dass im tiefsten Kern meines Seins ich komplett frei bin vom Mensch-Sein. Es ist wahre Freiheit, jenseits von Identifikationen bei gleichzeitiger Verbundenheit mit allem, was lebt. Ein Paradoxon.
Es löst tiefen Zweifel in mir aus, wenn jemand glaubt oder behauptet, auf dem spirituellen Weg irgendwo angekommen zu sein. Da gefallen mir solche Zen-Geschichten, wo ein Schüler dem Zen-Meister erzählt, dass er nun erleuchtet sei und der Zen-Meister darauf nur sagt: «Oh, das kann passieren! Geht aber schnell wieder vorbei.» Oder der Begriff «weiter!» ist vom Zen geprägt und bedeutet, dass wenn du glaubst, etwas erreicht zu haben oder in einem Zustand angekommen zu sein, es nicht darum geht, etwas festhalten zu wollen. Weil die Entwicklung unseres Bewusstseins grenzenlos ist.
Der spirituelle Pfad führt immer tiefer ins Mysterium, ins grosse Geheimnis hinein, wo es auf einer Ebene kein Wissen, kein Glauben, keine Überzeugungen mehr gibt, sondern ein immer tieferes Erkennen, dass wir nichts wissen, angesichts der Unermesslichkeit des Universums und des Lebens. Es bleibt nur noch dieses grosse Staunen im Einfach-Sein. Das heisst aber nicht, dass wir in unserem Mensch-Sein nicht auch Meinungen und ethische Werte vertreten sollen.
Bin ich nun esoterisch oder nicht?
Zu guter Letzt noch einmal diese Anfangs-Frage. Je nachdem ob ich die Ursprungs-Bedeutung oder die zeitgenössische Bedeutung nehme, lässt sich diese Frage anders beantworten. Ich lade also ein, diese Frage mit diesen Gegenfragen zu ersetzen:
Bin ich authentisch in meinem Ausdruck?
Gehe ich Kompromisse ein, wenn es um meine essentielle Wahrheit geht?
Zeige ich mich, mit dem, was mir am Herzen liegt und mit dem, was meine innere «Mission» ist?
Meine ich, etwas Besseres oder Besonderes zu sein als die Andren?
Bin ich gut verwurzelt in meinem eigenen Dreck? Bin ich im Bewusstsein, dass ich auch Schatten bin?
Entwickle ich mich genauso in die Höhe wie in die Tiefe?
Bestimmt gäbe es noch mehr solcher Fragen anzufügen.
In diesem Sinne wünsche ich allen eine gute Auseinandersetzung mit der Frage: wie kann Spiritualität, das Bewusstsein der All-Verbundenheit, mit ganz «normalem» und gut verkörpertem Mensch-Sein Eins werden und durch mich leben?
Susanna Maeder, September 2024
Quelle: Zur Geschichte der Esoterik, www.wikipedia.com
Comentarios